Montag, 1. Oktober 2007

Stuttgarter Zeitung 18.09.2007 berichtet





Stuttgarter Zeitung 18.09.2007 berichtet:

Internetwelt
Virtuelles Leben auf dem Marienplatz

Stuttgarter Einrichtungen und Unternehmen engagieren sich in der 3-D- Welt von Second Life

Stuttgart - Das ist also der Marienplatz. Ein riesiges, kopfsteingepflastertes Carré, in dessen Mitte auf einem grasgrünen Podest eine Bierbank steht. "Essen und Trinken koschded nix" heißt es da ein bisschen unschwäbisch. Das riesige Schild mit der Überschrift "Die Kehrwoche" und einem kurzen historischen Abriss über dieselbe passt schon besser ins Bild. Wer mag, kann gleich einen Feudel in die Hand nehmen und für einen Lohn von einem virtuellen Dollar pro Viertelstunde putzen. Die Ähnlichkeit mit dem wirklichen Leben ist nur zu erahnen, weil der Platz von Fototapeten mit Motiven des echten Marienplatzes umgeben ist - mit der Zacke drauf.

Zwei Stuttgarter haben den Marienplatz - oder besser gesagt ihre ganz eigene, liebevolle Interpretation davon - in ihrer Freizeit am Computer entworfen. In drei Dimensionen und in Farbe ist er in der Internetwelt Second Life für alle zugänglich, die die kostenlose Software auf ihrem Rechner installiert haben. Und inzwischen ein Treffpunkt für viele Stuttgarter, die in Second Life unterwegs sind. Jeden Tag schauen 1200 bis 5000 Leute vorbei.

"Im wirklichen Leben sitzen wir selbst oft am Marienplatz", sagt ClaireDiLuna Chevalier - so ihr Name in Second Life, über ihr Real Life (wie das erste Leben im Jargon des zweiten heißt) verrät sie nur, dass sie 37 Jahre alt und Rechtsfachgehilfin ist. "Schön ist der echte Marienplatz nicht, aber man kann dort Menschen aller Nationalitäten antreffen - und das passt zu dem, was wir in Second Life machen wollen."

Second Life will eine Art digitales Paralleluniversum zum wirklichen Leben sein - da darf Stuttgart nicht fehlen. Weil Privatleute sich dort genauso engagieren wie Firmen und Institutionen, ist die Vielfalt groß. Seit März gibt es sogar eine offizielle Landesvertretung, in deren Foyer ein Nachbau des Fernsehturms steht. Die Medien- und Filmgesellschaft Baden-Württemberg hat das Land ins Second Life gebracht. Dort kann man einerseits vieles über Baden-Württemberg erfahren (es gibt digitale Schwarzwaldhäuser und einen Nachbau des Bodensees), andererseits wird dort vielen Bildungseinrichtungen kostenlos Platz zum Ausprobieren der schönen neuen Welt eingeräumt.

Die Universität Stuttgart etwa ist in einem eigenen Gebäude mit dem Institut für Visualisierung und Interaktive Systeme (Vis) und mit dem Visualisierungsinstitut (Visus) vertreten. Schon bald sollen Studenten dort Lernmaterialien für Vorlesungen abrufen können, außerdem wollen die Wissenschaftler die neueste 3-D-Technik - zum Beispiel riesige Bildschirme mit sehr hoher Auflösung - vorführen. Dreidimensionale Welten, die viel realistischer sind als Second Life, gehören für die Forscher eigentlich zum Alltag. "Der Reiz an Second Life liegt darin, dass wir viele Menschen erreichen können", sagt Christiane Taras von Vis. Noch stehen die Räume allerdings überwiegend leer.

Auch das Grundstück der Max-Eyth-Schule ist zurzeit nur zu erkennen, weil dort ein großes Namensschild steht. Die Stuttgarter haben aber einiges vor: Im Herbst will Walter Türk, der Leiter der Berufsschule, mit einem Dutzend Schülern zusammen einen virtuellen Arbeitsraum aufbauen und dann dort ein, zwei Unterrichtsstunden pro Woche halten. Die Jugendlichen können über ihre ferngesteuerten digitalen Doppelgänger (die sogenannten Avatare) von zu Hause aus der Schulstunde folgen und Fragen stellen. "Wir wollen das einfach mal ausprobieren und ein wenig mit der neuen Technik herumexperimentieren", sagt Türk.

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[Internetwelt: Virtuelles Leben auf dem Marienplatz]



Die Universität Hohenheim geht die Erkundung von Second Life wissenschaftlich an: Da jeder Nutzer von Second Life in einen Männer- oder Frauenkörper oder auch als Tier auftreten kann, lässt sich das wirkliche Geschlecht des Spielers nicht feststellen.

Im Rahmen eines internationalen Forschungsprojekts zur Kommunikationsqualität in elektronischen Verhandlungen wagt Mareike Schoop, Professorin für Wirtschaftsinformatik, ein Experiment. Sie schickt mehrere Hundert Studenten ins Second Life, um sie bei Verhandlungen zu beobachten. Ihre These: je länger eine Unterhaltung dauert, desto klarer wird, ob ein Mann oder eine Frau hinter einem Avatar steckt. "Frauen versuchen eine Lösung zu finden, bei der jeder gewinnt", so Mareike Schoop, "Männer fechten häufiger einen Verteilungskampf aus."

Ein bisschen Forschergeist ist sicher auch dabei, wenn sich die Agentur Netformic im Second Life engagiert, denn das große Geld lässt sich dort bis jetzt noch nicht verdienen. Die Stuttgarter sehen sich als Dienstleister, um für Firmen und Einrichtungen eine Dependance in der 3-D-Welt aufzubauen. "Es gibt zwei Gründe, als Unternehmen in Second Life aufzutreten", sagt der Geschäftsführer Timo Weltner, "erstens ist das werbewirksam, wenn man dort dabei ist, zweitens kann man seinen Auftritt als Verkaufsunterstützung sehen."

Der Leonberger Automobilfotograf Rene Staud etwa betreibt seit kurzem einen virtuellen Showroom in Second Life - "anders als in einem reinen Internetshop kann man dort gleich sehen, wie der Kunstdruck, für den man sich interessiert, an einer Wand aussieht", so Weltner.

Auch viele große Unternehmen, die in der Region ansässig sind - etwa die EnBW oder IBM -, haben eine Vertretung in Second Life. Seit kurzem ist es sogar möglich, die neue C-Klasse in einer virtuellen Mercedes-Benz-Niederlassung Probe zu fahren.

Echtes Geld mit einem virtuellen Job zu verdienen, ist indes die Ausnahme. Doch die Medien- und Filmgesellschaft Baden-Württemberg (MFG) macht auch das möglich: Sie sucht auf ihrer Website Mitarbeiter für die Betreuung des digitalen Ländles: "Als Avatar werden Sie ein paar mal pro Stunde im virtuellen Baden-Württemberg nach dem Rechten sehen und Besucher, die Sie ansprechen, zu den Infotafeln verweisen." Weil auch in Second Life angemessene Kleidung durchaus erwünscht ist, könnte es indes sein, dass Bewerbern, die in monströsen Tierkörpern auftreten, gewisse Nachteile entstehen.

[] Alle fettgedruckten Einrichtungen haben einen Auftritt in Second Life. Weitere Informationen unter www.secondlife.com, www.secondlife.mfg-innovation und http://clairediluna-chevalier.blogspot.com.

Tobias Köhler, StZ
18.09.2007

Stuttgarter Zeitung
Marienplatz.

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